Die Nervensäge
aus Heilige und Scheinheilige
Autor: Jan Cornelius



Natürlich, auf den ersten Blick scheint es sich bei einer Nervensäge um das Folterinstrument eines Neurochirurgen zu handeln. Wir aber wissen es besser: In Wirklichkeit ist es eine Person, die ihre Mitmenschen gnadenlos foltert, indem sie ihnen schwer auf den Wecker fällt.

Obwohl das Substantiv Nervensäge weiblich ist, gibt es nicht nur weibliche, sondern auch männliche Nervensägen. Aber wen kann man denn alles als Nervensäge bezeichnen? Darüber wird heftig gestritten. So meinen zum Beispiel die Lehrer, die Schüler seien Nervensägen, wogegen die Schüler eisern behaupten, ihre Lehrer trampelten ihnen auf den Nerven herum. Die Angestellten halten grundsätzlich den Chef für eine Nervensäge, der Chef hingegen meint, seine Untergebenen gingen ihm mächtig auf den Keks. Die Beispiele lassen sich unendlich fortführen, und so ist der Wahrheitssuchende am Ende völlig mit den Nerven fertig und er fragt sich: Wer hat nun recht? Dabei ist die Antwort denkbar einfach: Alle sind Nervensägen - bis auf mich.

Zahlreiche Nervensägen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen durch ihr sinnloses Gerede völlig überfordern. So gibt es beispielsweise Leute, die einem tatsächlich erklären, wie es ihnen geht, wenn man sie danach fragt. Und damit nicht genug, solche Langweiler haben sogar den Anspruch, dass man ihnen auch noch aufmerksam zuhört. Denn sie sind total Ich-bezogen, und merken überhaupt nicht, dass ihnen niemand zuhören kann, weil sich ja jeder auf das, was er über sich selbst erzählen möchte, konzentrieren muss.

Wenn eine Nervensäge partout nicht aufhört dumm rumzureden, sollte man sich unbedingt etwas einfallen lassen, um dem Schrecken ein Ende zu machen. So ähnlich wie der Maler Max Liebermann, der einst zu einer als Dame verkleideten Nervensäge sagte: "Gnädige Frau, seien Sie bitte endlich ruhig, oder ich male Sie so wie Sie sind!"

Manche Nervensägen schaffen es tagelang mit nur ganz wenigen Wörtern auszukommen. Das Problem dabei ist nur, dass sie diese Wörter nonstop wiederholen. Meine kleine Tochter brachte es sogar fertig, mich monatelang allein und einzig mit dem Wort warum in den Wahnsinn zu treiben.

Leider hat man es, solange man lebt, mit Nervensägen zu tun: Wenn man ein Kind ist, sägen einem die Eltern schwer an den Nerven, und wenn man erwachsen ist, tun es die eigenen Kinder. Nervensägen sind allgegenwärtig, doch ohne sie hätten wir es auch nicht leichter: Zum Beispiel gäbe es keine Politiker mehr, was für uns keineswegs einfacher wäre, denn dann müssten wir uns jeden Tag in den Medien selbst auf die Nerven gehen. Und einsam wären wir auch, denn wenn die Nervensägen aussterben würden, hätten wir gar keine Nachbarn, keine Kollegen und keine Bekannten mehr. Und zu Hause herrschte nur noch tödliche Stille. Warum? Ganz einfach: Wir stünden plötzlich ohne Ehepartner da.

Meine Frau sagte neulich zu mir, ich sei selbst eine Nervensäge, weil ich beim Fernsehschauen ununterbrochen herum zappte. Aber eigentlich ging sie mir auf die Nerven, weil sie nicht einmal wusste, dass man beim Fernsehschauen zappen muss. Denn wozu hat man denn sonst eine Fernbedienung?

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